Holger Lund
Make it real! Zur Entwicklung postdigitaler Ästhetiken im Musikvideo
Wenn das „Echte“ des Analogen im indiskreten Kontinuum von Werten steckt, etwa akustischen, visuellen und haptischen Werten, so wächst mit der zunehmenden Digitalisierung so vieler Lebensbereiche, bei der alles in den binären, diskreten Code des Digitalen zerlegt wird, das Bedürfnis, jenes echte, unzerteilte Ganze nicht zu verlieren. Dazu wird entweder wieder analog vorgegangen, wovon in Musik und Video etwa die Rückkehr zu Analogsynthesizern und Bastelästhetik kündet, oder Analogizität wird digital simuliert, etwa mit digitalen Simulationen von Analogsynthesizern und Bastelästhetik. Das Ergebnis der Umfrage der Softwarefirma Ableton nach dem beliebtesten Soundpreset der Software Live 8 lautete: das akustische Klavier. Selbst Zalando und Ebay, die nun unvermutet tatsächliche Laden-Shops eröffnen, werden „echt“, anfassbar, ansprechbar, unzerteilte Materie. Der Grad der Digitalisierung scheint also soweit fortgeschritten, dass parallel dazu das postdigitale Zeitalter als Re-Analogisierung bereits begonnen hat.
Diese Entwicklung betrifft auch das Musikvideo, lässt sich an ihm ablesen. Und das sogar recht früh. Vermutlich deshalb, weil die Digitalisierung die Musik schon viel früher als andere Lebensbereiche erfasst hat. Erkennbar digitale Bildwelten, wie sie eigentlich so gut zu digital basierter Musik passen, konnten sich nicht wesentlich über die 2000er hinaus halten. Dann verlangte selbst die Avantgarde digitaler Musik langsam aber sicher verstärkt nach Visualisierungen ihrer Musik, die Züge des Analog-Handgemachten aufweisen oder vollständig daraus bestehen. Papier und Pappe, Schere und Stift halten Einzug in die Musikvideos, Polaroid und Super-8-Look erscheinen, Maschinen und technoide Futurismen werden mit Landschaften und Tiere ergänzt oder sogar davon verdrängt. Eine Ästhetik des „handmade-digital“ entwickelt sich, die nun ihrerseits ihre eigene Postdigitalität reflektiert: als paradoxer, computergenerierter oder -gestützter Versuch, das unzerteilte echte und reale Analoge mit den Mitteln der Echtheit und Realität zerteilenden Digitalität zu bekommen. Jedoch: vielleicht liegt gerade in diesem paradoxen Bemühen auch eine neue „Realness“?
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CV Holger Lund arbeitet als Kunst- und Designwissenschaftler sowie Kurator und DJ. 2008–2011 vertrat er die Professur für Theorien der Gestaltung an der Hochschule Pforzheim, Fakultät für Gestaltung. Seit Ende 2011 hat er die Professur für Medienkunst, angewandte Kunst- und Gestaltungswissenschaften an der DHBW Ravensburg inne. Seit 2004 leitet er zusammen mit Cornelia Lund die Medienkunstplattform fluctuating images (Stuttgart/seit 2008 Berlin; www.fluctuating-images.de). Seine Forschungsschwerpunkte sind Medienkunst und Musikvisualisierung, 2009 erfolgte die Publikation von „Audio.Visual – On Visual Music and Related Media“ zusammen mit Cornelia Lund, 2011 erschien die Vinyl-Compilation „Bosporus Bridges 2. A Wide Selection of Turkish Funk and Jazz Pearls“.