Peter Kirn

Zwischen Idee und Objekt: Musik und Materialität

Auf den ersten Blick scheint der Musik-Bereich der Postdigitalitätsdebatte hinterherzuhinken. So tut sich der akademische Diskurs oft schwer damit, die veränderten klanglichen Möglichkeiten digitaler und elektronischer Musik begrifflich zu fassen. Jedoch kann das Digitale selbst als Teil einer Entwicklungslinie in der Musik verstanden werden, die sich reduktionistische Modelle der Aufzeichnung von Musik zu eigen gemacht hat, in Partituren oder der Notation der relativen Tonhöhen in der Kirchenmusik, und die seit jeher versucht hat, mathematisch-geometrische Ideale auf der Ebene des Klangs, der Gestalt und der Architektur der Musikstücke umzusetzen. Verbunden mit diesem hegelianischen Verständnis von Theorie ging naturgemäß ein Ideal des technologischen Fortschritts einher.

Die allgegenwärtige Verfügbarkeit digitaler Musik hat eine Krise ausgelöst, auf die auch ProduzentInnen immer stärker reagieren. Dies umfasst nicht nur Musikproduktionen, die dezidiert antidigitale Züge aufweisen, sondern auch digitale Musik, die ihr Verhältnis zur Materialität der analogen Welt neu ausleuchtet. Sowohl in aufgezeichneten Produktionen als auch in Performances, von Kassetten-Labels bis hin zu mechanischen Konstruktionen für Performances, loten Künstler die Grenzen dessen aus, was ein ‚Musikobjekt‘ sein kann.

In meinem Vortrag vertrete ich eine etwas andere Auffassung als sie im Tagungskonzept zum Ausdruck kommt, zumindest im Hinblick auf Tendenzen im Musikbereich. ‚Digitalität‘, verstanden allein als Abkehr vom Materiellen hin zum Virtuellen, ist problematisch. Doch ein alternatives Verständnis von Digitalität bedeutet nicht automatisch eine alleinige Hinwendung zu Aspekten wie einer selbstreflexiven analogähnlichen Störungsästhetik oder den Digital Natives als neue Nutzergeneration von digitalen Medien. Das Aufkommen des Digitalen in der Musik war vielmehr seit jeher eng mit dem Analogen bzw. Materiellen verflochten, man denke etwa an die Lochkarten-System in der Frühphase digitaler Datenverarbeitung. Musiker, die mit Digitaltechniken arbeiten, waren also schon immer vertraut mit der materiellen bzw. physikalischen Voraussetzungen des Digitalen, speziell mit den verschiedenen Wandlungsformen von Analog zu Digital und umgekehrt.

Veränderungen sind in dieser Hinsicht tatsächlich zu beobachten, nur geht es dabei eher um eine gestiegene Aufmerksamkeit bzw. Sensibilität in Musikerkreisen für das dynamische Wechselverhältnis zwischen digital und analog, virtuell und akustisch, Idee und Material, welches das Wesen von Performance und Komposition ausmacht.

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CV  Peter Kirn ist Musiker, Medienkünstler und Journalist. Er ist Herausgeber der beiden Blogs Create Digital Music und Create Digital Motion, die sich mit Neuerung im Bereich der creative technology beschäftigen  (beide sind trotz ihres Namens nicht auf das Digitale beschränkt). Kirn ist zudem Herausgeber des 2011 erschienenen Bandes The Evolution of Electronic Dance Music. Er hat bei der Entwicklung von Open-source-Technologiem wie dem Hardware-Synthesizer MeeBlip und der Software library libpd mitgewirkt. Bei seinen audiovisuellen Performances verwendet er experimentelle ambient und dance music, etwa auf dem B-Seite Festival (Mannheim), Frequency Festival (Lincoln, UK) oder in der LEAP Gallery (Berlin).
Kirn arbeitet zurzeit an einer Doktorarbeit im Bereich Musikkomposition am Graduate Center of The City University of New York. Lehraufträge hatte er unter anderem an der Parsons The New Scool für Design und am Brooklyn College, zudem veranstaltet er international Workshops. Peter Kirn lebt zurzeit in Berlin.